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Vernichtungskrieg

Ein Pressekommentar zum 1. September 2009:

Die Ansichten über Ursachen und Verantwortungen für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sind in Bewegung gekommen, davon zeugen ausnahmsweise sogar einige Beiträge in großen deutschen Zeitungen. Gestern erregte sich Adam Krzeminski in der FAZ über die neue russische Geschichtspolitik, die Stalin wieder als großen nationalen Führer deutet und Polen beiläufig einen entscheidenden Beitrag für den Krieg vom 1. September 1939 zuweist. Ob es denn aus russischer Sicht wohl besser gewesen wäre, Polen hätte dem deutschen Liebeswerben nachgegeben und sich an dem angeblich von Berlin aus vorgeschlagenen Eroberungsfeldzug nach Rußland beteiligt, fragt Krzeminski. Er rückt Polen dann wieder in die bekannte Rolle des ausweglosen Opfers und zugleich tapferen Verteidigers des christlichen Europa gegen die Heiden aus Ost und West - die Sowjets und die Nationalsozialisten nämlich. Heute greift nun Sven Felix Kellerhoff in der WELT zur Feder und läßt negatives über Historiker und Publizisten wie Gerd Schultze-Rhonhof und Stefan Scheil verlauten, die ebenfalls verschiedenen Staaten eine Mitverantwortung die damaligen Ereignisse zuweisen, oder besser gesagt: diese Mitverantwortung nachweisen. Kellerhoff hält davon nichts, muß aber den zunehmenden Zuspruch für diese Einsichten einräumen, der sich in den steten Neuauflagen von "Der Krieg, der viele Väter hatte" und "Fünf plus Zwei - die vereinte Entfesselung des Zweiten Weltkriegs" ausdrückt.

In der Tat findet hier eine Graswurzelbewegung statt, die zwar einen noch durchaus ausbaufähigen Charakter hat, aber bereits beginnt, der offiziösen bundesdeutschen Geschichtspolitik die Deutungshoheit in diesem Bereich ernsthaft streitig zu machen. Kellerhoffs und Krzeminskis Artikel zeigen auch ganz beispielhaft, warum dies möglich und notwendig ist. Das offiziöse Bild widerspricht in wesentlichen Punkten den historischen Fakten.

Einen deutsch-polnischen Gesprächsinhalt "gemeinsamer Angriff auf die UdSSR", wie Krzeminski behauptet, hat es nie gegeben, und eine polnische "Entschädigung" in der Ukraine war schon deshalb auch gar nicht nötig, weil Deutschland in den Jahren 1938/39 von Polen gar kein Territorium forderte. Man wollte von Berlin aus einen Ausgleich: endgültiger Revisionsverzicht in Westpreußen und Oberschlesien, also Anerkennung der bestehenden deutsch-polnischen Grenze, gegen den Anschluß Danzigs, so lautete der Vorschlag. Dies war analog zu dem vorherigen Handel mit Italien gedacht, der dort gelautet hatte: "endgültiger Revisionsverzicht in Südtirol gegen den Anschluß Österreichs". Neben Außenminister Ribbentrop hat auch Italiens Außenminister Ciano versucht, der polnischen Regierung dieses Konzept im Herbst 1938 und im Frühjahr 1939 nahe zu bringen. Dabei war in Deutschland allerdings der Einfluß von kriegerischen Eiferern zu überwinden. Zu denen ist etwa der Vater des späteren Bundespräsidenten Weizsäcker zu zählen, der sich später zum Verteidiger des Friedens stilisierte, tatsächlich aber entgegen den Absichten Hitlers und Ribbentrops im Winter 1938/39 die sofortige Erpressung Westpreußens und Danzigs von Polen forderte.

Polen lehnte schließlich den dennoch angebotenen Ausgleich ab, nicht weil man sich als Opfer oder Verteidiger fühlte, sondern weil die Gelegenheit günstig schien, auf Expansionskurs zu gehen. Das Polen von 1939 wollte mehr Land in Ostpreußen, Danzig, Schlesien, Pommern und der englische Blankoscheck vom Frühjahr 1939 schien dies möglich zu machen. Dieser Aspekt fehlt völlig bei Krzeminski, er ist jedoch nachweisbar, politisch wichtig gewesen und eigentlich jedem wirklichen Fachmann bekannt.

"Polen wartet, fast fatalistisch", überschreibt andererseits Kellerhoff seinen Artikel in der WELT. Es ist ein Goebbels-Zitat, das ein wenig inhaltsleer ist, aber polnische Passivität gegenüber deutschen Eroberungsplänen suggeriert. Kellerhoff könnte natürlich auch aus dem Goebbels-Tagebuch von 1939 zitieren, daß der "Führer wegen Danzig etwas Druck auf Polen" ausüben will, aber "wir in den saueren Apfel beißen und Polens Grenzen anerkennen" wollen. Oder Kellerhoff könnte Goebbels auch so zitieren:

"Die polnischen Großsprecher verlangen jetzt Ostpreußen und Deutsch-Schlesien. Wenn es nach ihnen ginge, läge die nächste polnische Grenze an der Oder. Warum nicht gleich die Elbe oder den Rhein verlangen? Sie würden dort ihren neuen Verbündeten, die Engländer treffen, deren Grenze, wie jedermann weiß, ebenfalls am Rhein liegt." (Anspielung auf eine entsprechende Äußerung des englischen Premiers Baldwin)

Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Auch in der Hoßbach-Niederschrift von Hitlers Äußerungen am 5. November 1937, die Kellerhoff erwähnt, ist nicht von Lebensraum im Osten die Rede, wie er suggeriert, sondern davon, daß Polen jede deutsche Schwäche zur militärischen Offensive gegen Deutschland ausnutzen würde, und zwar trotz bestehendem Nichtangriffspakt und gemeinsam mit den Westmächten. Dies alles schuf ein durchaus reales Bedrohungsszenario, das mit dem Verweis auf die zweifellos geringere Stärke der polnische Armee gegenüber der Wehrmacht nicht entschärft werden konnte, denn Polen kämpfte keineswegs allein und kalkulierte entsprechend:

"Von verschiedenen polnischen Gewährmännern hört man immer wieder die polnische Auffassung über die Erfolgsaussichten in einem zukünftigen Kriege dahingehend, daß Polen 'den Deutschen zunächst wohl taktische Erfolge zuerkennt, daß sie aber auf weite Sicht das strategische Ziel nicht erreichen werden, genau so, wie sie es im Weltkrieg durch Mangel an Rohstoffen nicht erreicht haben'."

So und ähnlich lauteten etliche im Bundesarchiv erhaltene Berichte aus Polen aus dem Jahr 1939, die übrigens auch Material über polnische Offensivabsichten, über Grenzschießerien in Oberschlesien und sogar einen Bericht über die positive Reaktion der polnischen Bevölkerung im Grenzgebiet auf die "polnische Besetzung von Gleiwitz" enthalten.

Alles in allem ist das in den großen Medien und den politischen Gedenkveranstaltungen kolportierte Geschichtsbild über den deutsch-polnischen Krieg von 1939 und den Weltkrieg insgesamt offenkundig Erweiterungs- und Revisionsbedürftig. Die Bereitschaft deutscher Regierungskreise, einen Wandel in diesem Sinn zu begünstigen, tendiert gegen Null. In der Tat würde ein solcher Wandel möglicherweise erhebliche und schwer kalkulierbare politische Umwälzungen mit sich bringen können. Eine politische Gedenkveranstaltung zum 1. September 1939, die den vielseitigen Verantwortlichkeiten gerecht wird, erscheint geradezu utopisch. Dessen ungeachtet findet ein Wandel statt. Sven Felix Kellerhoff zitiert Hitler: "Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht." Es ist erfreulicherweise zu erwarten, daß Hitler auf Dauer nicht Recht behält.