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Vernichtungskrieg

Der Kriegsausbruch 1939 - Ursachen und alliierte Geschichtspolitik

Robert H. Jackson stand vor einem Problem. Der frühere amerikanische Justizminister hatte seinem Präsidenten Franklin D. Roosevelt stets routinierte Dienste bei der juristischen Absicherung der amerikanischen Kriegspolitik geleistet und war nun nach Europa geschickt worden, als der Krieg sich dem Ende zuneigte. Es galt, dort den amtlichen Schlußstein des Konflikts zu setzen und die deutsche Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg ein für allemal festzuschreiben. Während die englische Regierung dafür plädiert hatte, die wichtigsten Mitglieder der deutschen Führung ohne weitere Umstände vom Leben zum Tode zu befördern, mußte dafür aus amerikanischer Sicht ein formales Gerichtsverfahren geführt werden. Jackson erklärte seinen alliierten Juristenkollegen in mehreren Anläufen den Grund dafür. Schließlich wußte er und betonte es auch, daß die deutsche Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten vollkommen legal gewesen war. Daher, so erklärte Jackson, müsse der Krieg in Europa vor Gericht als eine von Anfang an völkerrechtswidrige deutsche Aggression dargestellt werden.

Das erwies sich als leicht gesagt, jedoch als schwer zu beweisen. Längeres Aktenstudium ließ Jackson zunehmend an der Möglichkeit zweifeln, daß ein fairer Prozeß die Behauptung von der deutschen Alleinschuld irgendwie untermauern könnte. Ganz im Gegenteil:

"Die Deutschen werden mit Sicherheit unsere drei europäischen Alliierten anklagen, eine Politik verfolgt zu haben, die den Krieg erzwungen hat. Das sage ich, weil die sichergestellten Dokumente des Auswärtigen Amts, die ich eingesehen habe, alle zum selben Schluß kommen: "Wir haben keinen Ausweg; wir müssen kämpfen; wir sind eingekreist; wir werden erdrosselt". Wie würde ein Richter reagieren, wenn dies im Prozeß herauskommt? Ich denke, er würde sagen: Bevor ich jemanden als Aggressor verurteile, soll er hier seine Motive schildern."

Und das wäre katastrophal, so Jackson weiter, denn "wenn dieser Prozeß in eine Diskussion über die politischen und wirtschaftlichen Ursachen des Krieges hineingerät, kann daraus sowohl in Europa, das ich nicht gut kenne, als auch in Amerika, das ich ziemlich gut kenne, unendlicher Schaden entstehen."

Solche Aussichten spornten den eifrigen US-Juristen letzten Endes aber nur an. Er plante seinen perfekten Prozeß als Gesetzgeber und führte ihn als Ankläger erfolgreich durch, indem eine Diskussion über die Kriegsursachen vor den Nürnberger Tribunalen schlicht verboten wurde. Es kam nichts von der Kriegspolitik der Westmächte, Polens oder der UdSSR "heraus", da fast sämtliche Dokumente und Aussagen in dieser Richtung vom Gericht als irrelevant zurückgewiesen wurden. Das Haifischbecken der europäischen Politik der Zwischenkriegszeit mutierte in Nürnberg zum Karpfenteich, in dem sich böswilligerweise ein einziger Hecht herumgetrieben hatte. Man darf sagen, daß selten auf dem Umweg der Justiz eine Entscheidung getroffen worden ist, die langfristig so sehr als Vorbild für die Arbeit der Geschichtswissenschaft gewirkt hat

Die professorale deutsche Geschichtswissenschaft begann jedoch zunächst ganz unbefangen, über die tieferen Ursachen der deutschen und europäischen Katastrophe nachzudenken. Ludwig Dehio legte 1948 mit "Gleichgewicht oder Hegemonie" gleich eine vollständige Theorie des europäischen Staatensystems der Neuzeit vor, in dem der Zweite Weltkrieg als letzter Abschnitt einer langen Abfolge von traditionellen Hegemonialkämpfen erschien. Deutschland wurde zwar als Auslöser des Krieges verstanden, stand aber in einer Reihe mit dem Spanien der expansiven Ära des 16. Jahrhunderts und dem Frankreich Ludwigs XIV. und Napoleon Bonapartes. Der Nationalsozialismus war hier bereits historisiert, mehrere Jahrzehnte bevor in der Bundesrepublik jene lebhafte Diskussion darüber losbrach, ob dies aus moralischen Gründen nicht verboten sein müsse.

Selbst jüdischer Herkunft, hatte Dehio die NS-Zeit zurückgezogen in Berlin überlebt. Nun sah er keinen Grund, die nationalsozialistischen Verbrechen zu marginalisieren, aber auch keinen Anlaß, sie als etwas anderes zu sehen denn als modernes Mittel zur totalen Machterweiterung. Er schrieb die Radikalisierung des NS-Regimes außerdem, in gewisser Weise Ernst Nolte vorwegnehmend, einer mit den Jahren stärker hervortretenden "russischen Beimengung" zu, die den "verstärkten Einfluß Asiens" auf Europa wiederspiegele. Hitlers Versuche seien gescheitert, das Weltsystem mittels lokaler Aktionen quasi zu unterwandern. Der Club der Weltmächte reichte sich die Hand und kämpfte den kommenden Konkurrenten nieder, "war es doch elementarer Grundsatz ihrer Politik, zusammenzustehen gegen jede Macht, die Miene machte, ihnen den Rang abzulaufen."

So klar beobachten läßt sich nur von einer gewissen Höhe. Dehio schrieb europäische Geschichte und wurde dabei von einem Bewußtsein getragen, das einmal europäisches Gemeingut gewesen war und in dem die Allgegenwart moralischer Selbstzweifel an staatlicher Machtausübung noch nicht gegeben war. Daher blieb aus seiner Perspektive die Frage im Grunde zweitrangig, wie sich dies auf der Ebene konkreter Diplomatie dargestellt habe. Das vereinte Deutschland stellte durch seine bloße Existenz potentiell eine neue Größe in der Weltpolitik dar. Seine Vernichtung oder mindestens Auflösung war seit 1914 ein konstantes Element in den Wunschvorstellungen von bedeutenden Teilen der politischen Eliten der anderen Großmächte gewesen. Dieses Ziel und seine Bedeutung für den erneuten Ausbruch des Weltkriegs von 1939 und besonders für dessen Verlauf zu bestreiten, wäre Dehio und vielen seiner historisch denkenden Zeitgenossen als völlig absurd erschienen. Er verurteilte das nicht, er stellte es fest.

Zu den Zeitgenossen mit ähnlicher Auffassung gehörte beispielsweise Winston Churchill, der in seiner ebenfalls 1948 erschienen Darstellung des Weltkriegs sogar vom "zweiten dreißigjährigen Krieg" zwischen 1914 und 1945 sprach. Churchill hielt es für sein ebenso selbstverständliches Recht, kompromißlos auf die Vernichtung der deutschen Einheit hingearbeitet zu haben, wie er es für vollkommen normal hielt, daß die Deutschen bis zum bitteren Ende dagegen ankämpften: "Wenn ich ein Hunne wäre, würde ich rennen was das Zeug hält, um Hitler zu Hilfe zu kommen", meinte er noch 1944. Churchill berichtete nicht ohne Stolz darüber, jedes Gesprächs- oder Friedensangebot der deutschen Seite jederzeit zurückgewiesen zu haben, ohne auch nur dessen Inhalt zu prüfen. Seine Interessen galten aber nicht der moralischen Verurteilung zu politischen Zwecken. Daher hinderte ihn nichts daran, zeitgleich für den Verteidigungsfonds deutscher Militärs in den Nürnberger Nachfolgeprozessen zu spenden, weil er ihnen bei aller entschlossenen Feindschaft nicht den Respekt schuldig bleiben wollte.

Politisch blieb die Frage brisant, wer denn nun 1939 eigentlich den erneuten heißen Konflikt angefangen habe. Der Kalte Krieg hielt sie aktuell, als sich West und Ost plötzlich gegenseitig beschuldigten, die deutsche Regierung 1939 als Auslöser benutzt zu haben. Je nach Perspektive konnte der Krieg von 1939 so plötzlich als kapitalistisch-faschistische oder kommunistische Intrige erscheinen. Die Analyse von Detailfragen wurde jedoch zunehmend auch das Opfer einer Moralisierung der Geschichtswissenschaft, die sich den großen historischen Versuch nicht mehr zutraute, wie Dehio ihn unternommen hatte. Auf der Basis manchmal reichlich dünner Quellenüberlieferung wurden statt dessen mit anklagendem Gestus einzelne Ereignisse herausgestellt. Ob nun bewußt oder unbewußt, wie bereits in Nürnberg wurde die Rolle anderer Staaten als Deutschland dabei immer weniger berücksichtigt. Eine historische Einordnung des Weltkriegs in ein umfassendes Erklärungsschema schien nicht mehr adäquat zu sein.

Die an sich naheliegende Beobachtung, mit Deutschland habe nicht zum erstenmal eine große europäische Nation für einige Zeit die kulturell aktivste, wirtschaftlich erfolgreichste und bevölkerungspolitisch dynamischste Macht des Kontinents verkörpert, sei aber den letztlich stärkeren Bataillonen einer Koalition machtpolitisch unterlegen und habe dabei auch ihr Überlegenheitsgefühl und ihre Leistungsfähigkeit verbraucht, trat in den Hintergrund. Es wurde viel vom "deutschen Sonderweg" gesprochen, ohne immer zu bedenken, daß noch jede bedeutende europäische Nation zu ihrer besten Zeit einen Sonderweg gegangen war und ihre Bedeutung jeweils ziemlich genau darin bestanden hatte, zu einem solchen Weg fähig zu sein.

 Zweiter Teil