Vernichtungskrieg Besprechungen: Jochen Böhler:
Der Überfall - Deutschlands Krieg gegen Polen, Frankfurt 2009, 271 S. Pünktlich zum
siebzigsten Jahrestag des 1. September 1939 präsentierten die
öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik eine filmische
Würdigung der Ereignisse. Das Deutsche Historische Institut in Warschau
steuerte das Buch zum Film bei. Jochen Böhler hat es geschrieben. Diese Umstände
seiner Entstehung muß man im Blick behalten, will
man dieses Buch verstehen. Es ist buchstäblich nicht einmal im Ansatz eine
wissenschaftlich belastbare Darstellung; es ist arrangiert wie ein Film, man muß leider sagen, wie ein Propagandafilm. So beginnt
Böhler mit einem Blick auf den "sonnenumfluteten Stadtpark" in
Warschau, in dem herausgeputzte Frauen den Kinderwagen schieben, "mitten
im tiefsten Frieden". Dann greifen plötzlich deutsche Flugzeuge an und
der Krieg beginnt. Roman Polanski hat dies jüngst im Film "Der
Pianist" so inszeniert und Böhler übernimmt es gern. Nur: Sollte der
Historiker wirklich mit Effekten arbeiten, wie es dem Künstler zusteht, unter
Vorspiegelung von Tatsachen, von denen er ganz genau weiß, daß sie nicht zutreffen? Die Frage ist
rhetorisch. Böhler inszeniert sein Material zwar immerhin so, daß selbst aus dieser Zusammenstellung dem Leser
eigentlich klar werden muß, daß
von einem "Überfall" auf Polen im Jahr 1939 nicht gesprochen werden
kann. Der deutsche Angriff kam am 1. September keineswegs überraschend, weder
für die Politik, noch das Militär oder die Zivilbevölkerung, was die
Voraussetzung für einen "Überfall" wäre. Dennoch blendet Böhler aus
der Vorgeschichte wesentliche Elemente aus. Von polnischen
Territorialansprüchen auf deutsches Gebiet bis zu Oder und Elbe, wie sie
propagandistisch laut erhoben wurden, ist bei ihm keine Rede. Von der in
Polen im Jahr 1939 grassierenden Kriegshysterie, die schließlich in Mord und
Totschlag an der dortigen deutschstämmigen Zivilbevölkerung mündete, schweigt
er, müßte sie doch das inszenierte Bild von der
friedlichen polnischen "Bourgeoisie" und ihren Kinderwagen
beschädigen. Die polnische Regierung habe zwar Deportation und
"Todesmärsche" für die Deutschen "überhastet" angeordnet,
Ausschreitungen aber "nicht gewollt", so Böhler. Auch dieses
Geschehen verlegt er zudem völlig in die Zeit nach dem 1. September, um den
Mythos vom "Überfall" nicht zu gefährden. Daß der polnische Botschafter
in Berlin von seiner Regierung die Anweisung bekommen hatte, sich keinesfalls
für Verhandlungsangebote zu interessieren und am Morgen des 31. August vom
bevorstehenden Marsch polnischer Truppen auf Berlin sprach, erfahren wir
weder von Böhler noch vom deutschen Fernsehen. Statt dessen zitiert er fast
eine Seite lang eine längst als Fälschung entlarvte angebliche Rede des
deutschen Generalstabschefs Halder als Beleg für frühzeitig im Frühjahr 39 entwickelte
deutsche Angriffspläne. (S. 39 f.) Mit solchen Fälschungen erschütterte
damals das Focus-Netzwerk in England die europäische Öffentlichkeit und
Politik, um den Krieg als unvermeidlich und die deutsche Regierung als
verhandlungsunwillig hinzustellen. (1) Leider stellt
Böhlers Buch also nur einen Beitrag zu den öffentlich-rechtlichen
Phantasiegeschichten um die deutsche Zeitgeschichte dar und wurde wie üblich
von Sven Felix Kellerhoff in der Tageszeitung "Die WELT" als beispielhaft
hervorgehoben. Ob in diesem Fall von bewußter
Desinformation der deutschen Öffentlichkeit durch die deutsche Presse
ausgegangen werden kann, bleibt fraglich. Man soll bekanntlich nie Absicht
vermuten, wo Inkompetenz eine zureichende Erklärung sein könnte. Etwas
anderes war jedenfalls wohl nicht zu erwarten - schade
eigentlich. (1) Vgl. Kapitel:
"Die gefälschte Halder-Rede" in: Stefan Scheil:
Churchill, Hitler und der Antisemitismus, Berlin 2009, S. 268 ff. |
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