Vernichtungskrieg Besprechungen: Bernhard Dietz:
Neo-Tories - Britische Konservative im Aufstand gegen Demokratie und Moderne,
München 2012, 334 S. Im Jahr 1933 tat
sich in London Erstaunliches. Das Massenblatt Daily Express spekulierte im
Juni öffentlich über die Errichtung einer britischen Diktatur und hatte auch
einen Vorschlag, wer denn der Chef sein sollte: "Der Panther-artige Lord
Lloyd wird von seinen Bewunderern als möglicher kommender Diktator gesehen.
Er würde vermutlich einen exzellenten Diktator abgeben - sagen wir mal, für
drei Jahre." George Ambrose
Lloyd alias Lord Lloyd war nun in der Tat kein Unbekannter. 1910 zum ersten
Mal ins Unterhaus gewählt und zwischenzeitlich mit hochrangigen Positionen in
der Kolonialverwaltung von Indien und Ägytpen beauftragt, gehörte er zum engeren
Kreis des britischen Establishments. Das sollte auch so bleiben, trotz seines
zwischenzeitlichen Flirts mit einer Rolle als autoritärem Regierungschef. Als
Winston Churchill schließlich im Jahr 1940 der Premier wurde, ernannte er
Lord Lloyd zum Kolonialminister. Bernhard Dietz
ordnet diese kleine Episode in seine, aus seiner Dissertation hervorgegangene
Studie über antidemokratisches Denken in Großbritannien ein, als Ausdruck der
Anstrengungen von "Neo-Tories", politisch wirksam zu agieren. Als
Neo-Tories gilt ihm ein bisher in Forschung und Literatur weitgehend
übersehener Personenkreis, der einerseits Teil der besseren Gesellschaft und
häufig der konservativen Partei war, andererseits aber wesentliche britische
Grundüberzeugungen ablehnte. Neo-Tories dachten anti-parlamentarisch,
anti-feministisch, anti-pazifistisch, elitär, imperialistisch, rassistisch
und pro-monarchistisch. Ihr negativer historischer Bezugspunkt war die
"In-Glorious Revolution" von 1688/89, seit der das Parlament seinen
Vorrang gegenüber dem König durchgesetzt hatte. Damit hatte aus
Neo-Torie-Sicht das Elend begonnen. Insofern erreichte ihre ablehnende
Haltung selbst solche konservativen Traditionsfiguren wie Edmund Burke, den
Zeitgenossen und bekannten Kritiker der französischen Revolution, der aus
ihrer Sicht zu parlamentarisch dachte. Dietz grenzt die
Neo-Tories einerseits von den Demokraten, andererseits auch deutlich von den
britischen Faschisten um Oswald Mosley ab. Zwar gab es Kontakte, aber die
typisch faschistische Methode des uniformierten Massenaufmarschs und der
Proteste von unten waren nun gerade nicht das, was die elitären Kreise für
angemessen hielten. Eine gewisse Bewunderung für Mussolinis Regime in Italien
ist bei ihnen zwar nachzuweisen, jedoch nur abstrakt, als nicht zu
kopierendes Beispiel dafür, wie angeblich ein Land gesunden könnte. Dem
Nationalsozialismus stand man erst recht kühl gegenüber. Parallelen zur
deutschen konservativen Revolution sind offenkundig, große Unterschiede aber
auch. Dieses Verhältnis wird noch eigens untersucht werden müssen. Neo-Torie
Gedankentum hing allerhand Prominenz der damaligen Zeit nach. Darunter finden
sich Namen wie der von Duncan Sandys, der 1935 Winston Churchills älteste
Tochter Diana heiratete und nach 1945 zum mehrfachen Minister und zu einer
der Schlüsselfiguren der frühen europäischen Vereinigung aufgebaut wurde.
Davor gehörte er in den frühen dreißiger Jahren zu den Neo-Tories und hielt
es für angemessen, das Archivmaterial aus diesen Jahrgängen in den 1980ern
wieder aus seinem Nachlaß zu entfernen, nachdem er es schon dem
Nationalarchiv überlassen hatte. Es ist auch deshalb ungewöhnlich und
anerkennenswert, wie Dietz diesen verlorenen und versteckten Zusammenhängen
auf den Grund gegangen ist. Die Frage, ob
Großbritannien im Jahr 1933 ernsthaft vor der Möglichkeit stand, eine
Diktatur der Neo-Tories zu werden, kann man wohl getrost mit nein
beantworten. Auch bei großzügiger Auslegung überstieg die Zahl der Anhänger
solchen Gedankenguts kaum die fünfzigtausend und diese fünfzigtausend gaben
ihre Zustimmung eher durch Zeitschriftenabonnements zu Protokoll, als daß sie
schlagkräftig organisiert gewesen wären. Dies zeigt Dietz anschaulich und
fördert nebenbei manch interessante Einsicht in die britische Clublandschaft
zutage. Bei einzelnen Themenbereichen konnten die Neo-Tories Einfluß
gewinnen, etwa auf die britische Politik während des Spanischen Bürgerkriegs.
Für eine politische und intellektuelle Wende hin zum idealisierten
"Merry Old England" samt eines romantisch-autoritären Königtums gab
es kein Potential.
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