Vernichtungskrieg Besprechungen: R. M. Douglas:
"Ordnungsgemäße Überführung". Die Vertreibung der Deutschen nach
dem Zweiten Weltkrieg. Verlag C. H. Beck, München 2012, gebunden, 556 Seiten,
Abbildungen, 29,95 Euro Beginnen wir mit
der schlechten Nachricht: Auch der Autor dieses neuen Buchs über die
Vertreibung der Deutschen nach 1945 erweist wesentlichen Lebenslügen der
Zeitgeschichtsschreibung seine Reverenz. Darunter sind Legenden, von denen
seine Darstellung zentral beeinflußt wird. Zum einen gehört die Geschichte
vom "unprovozierten Überfall" auf Polen im Jahr 1939 mit dazu. Dann
folgt im weiteren der Irrglaube, es hätten sich erst nach diesem Ereignis die
Pläne für Gebietserweiterungen auf deutsche Kosten und die Vertreibung der
dort ansässigen Bewohner herausgebildet. Beides trifft nicht zu, und wenn man
die Quellen sichtet, die Raymond M. Douglas angibt, dann hätte er beide
Behauptungen auch nicht bringen müssen. Er kennt und nennt eine ganze Reihe
von Historikern, die sowohl die Vertreibungspläne der Vorkriegszeit wie auch
polnische Provokationen für das Jahr 1939 ausführlich nachgewiesen haben. Er
biegt aber um diese Inhalte herum. Unter solchen
Umständen liegt natürlich die ganze Darstellung vielfach schief. Wer mit dem
Zuknöpfen einer Jacke am falschen Knopfloch beginnt, der bringt nichts
gerades zustande, das wußte schon Goethe. Aber dies ist erfreulicherweise
keineswegs alles, was über Douglas zu sagen ist. Das Anliegen des
US-Geschichtsprofessors von der Colgate University im Staate New York ist es,
trotz dieser eingeschränkten Voraussetzungen und unzutreffenden Annahmen eine
Vertreibungsgeschichte abzuliefern, die auch das Leid der Vertriebenen zum
Thema hat. Dies sei man den allgemeinen Maßstäben der Humanität schuldig,
zumal so lange Zeit nach Kriegsende, das betont er an verschiedenen Stellen. Unter diesen Voraussetzungen
hat Douglas kein Problem damit, viele der üblen Aspekte der alliierten
Vertreibungspolitik aufzugreifen, die sonst oft verschwiegen werden. Zum
Thema wird dabei immer wieder die absichtliche Willkür der
Vertreibungsmaßnahmen, die im Jahr 1945 lange Zeit durch eine entsprechende
Besatzungspolitik im geplanten Restdeutschland ergänzt wurde. Nur fünf
Prozent der 1945 in der amerikanischen Zone geborenen Säuglinge überlebten
diese Bedingungen, führt Douglas an. Für die Vertreibungsgebiete sahen die Verhältnisse
noch schlechter aus, soweit das überhaupt möglich war. Dies wurde bewußt in
Kauf genommen, so Douglas. Kaum einer unter
den verantwortlichen Politikern beabsichtigte eine "ordnungsgemäße
Überführung" der Vertriebenen, obwohl die Folgen von vornherein absehbar
waren. Chaos, Unterernährung, fehlende medizinische Versorgung, Trennung von
Familien und Verwandten, willkürliche Freigabe zur Adoption, Vergewaltigung,
Mord und Totschlag waren die Konsequenz. Demütigung und Dezimierung der
Deutschen galten gleichermaßen als erwünscht. Millionen Tote würden Platz für
Millionen Vertriebene schaffen, auch diese bekannte und sogar vor dem
englischen Parlament offen ausgebreitete Logik Winston Churchills spricht
Douglas an. Er unterscheidet zwar in eigenen Kapiteln zwischen wilden
Vertreibungen und organisierten Vertreibungen, läßt aber keinen Zweifel an
den katastrophalen Verhältnissen auch bei letzteren. Als besonders bedrückend
empfindet er die Gleichgültigkeit der westlichen Besatzungsmächte, die dies
täglich mit ansahen, verwalteten und mit verursacht hatten. Ein Kapitel ist
dem "Wilden Westen" gewidmet, also den Regionen Deutschlands
östlich von Oder und Neiße, die ab 1945 zu Westpolen umdefiniert werden
sollten. Damit wußte die polnische Zivilbevölkerung in großen Teilen wenig
anzufangen und nahm das Geschenk, das allein schon aus demographischen
Gründen kaum mit Leben zu erfüllen war, nur mit Zögern an. Glücksritter
sicherten sich deutschen Besitz, sensiblere Gemüter suchten teilweise nach
Gelegenheiten, wieder nach Polen zurückzureisen. Auch die heute gern
verbreitete These, die deutschen Ostprovinzen seien wegen der
"Ostverschiebung" zur Ansiedelung von Polen aus dem nun
sowjetischen Ostgalizien oder dem Wilna-Gebiet notwendig gewesen, ist allein
wegen der reinen Anzahl von von knapp 1,5 Millionen Umsiedlern von dort
fragwürdig. Noch nach Jahren blieb das Gebiet in großen Teilen eine Brache,
soweit nicht deutsche Zwangsarbeiter zur Bewirtschaftung zur Verfügung
standen Ein eigener
Abschnitt ist den Rechtsfragen gewidmet. Erstaunlicherweise verwirft Douglas
nicht die Möglichkeit, daß Vertreibungen tatsächlich völkerrechtlich
gerechtfertigt sein könnten. Es könnte so etwas wie Kollektivverantwortung
geben, läßt er wissen. Die gängige rechtliche Praxis in der Bundesrepublik,
die die Verfolgung von Vertreibungsverbrechen fast unmöglich gemacht hat,
findet in der Tat ihre Entsprechung auf internationaler Ebene. Douglas
referiert dies mit erkennbarem Unbehagen und zieht vorsichtig Parallelen mit
dem Rechtsverfall im heutigen "Kampf gegen den Terror". Warum
angelsächsische Historiker sich derzeit so bemüßigt fühlen, den Wortlaut von
Erklärungen deutscher Politiker zu kommentieren, darüber muß man nicht
sonderlich spekulieren. Wie Timothy Snyder in den jüngst hier besprochenen
"Bloodlands" (JF 51/11) nimmt auch Douglas in der
"Ordnungsgemäßen Überführung" ausgiebig geschichtspolitisch
Stellung. Dazu gehören die immer wieder eingestreuten Versicherungen, jedes
noch so schwere deutsche Einzelschicksal sei "unvergleichbar" mit
den Dingen, die vorher geschahen. Hier schlägt dann
auch wieder die Kombination aus Unwissen und Sensationslust zu, die den
wissenschaftlichen Austausch dieser Tage mit prägt. Man habe aus den
"verachteten" Polen die volksdeutschen "Arier" heraussieben
wollen, behauptet Douglas, offenbar in Unkenntnis des NS-Arierbegriffs, der
Polen genauso wie Tschechen oder andere Europäer durchgängig als Arier
bewertete. Häufig ist in der Literatur auch die unzutreffende Behauptung zu
lesen, der nationalsozialistische Generalplan Ost hätte die Vertreibung und
Ermordung von dreißig Millionen Menschen festgeschrieben. Douglas gibt aus
eigener Phantasie nicht weniger als gleich nochmal zwanzig Millionen dazu und
spricht von fünfzig Millionen Menschen, die nach NS-Plänen vertrieben oder
getötet werden sollten. Man will sich
nicht daran gewöhnen, dies für wissenschaftlich tragbar zu erachten. Dennoch
läßt sich mit einer halbwegs guten Nachricht schließen. Die
"Ordnungsgemäße Überführung" ist ein kleiner Fortschritt auf dem
mühsamen Weg, die Verbrechen an Deutschen beim Namen zu nennen. Zuerst
erschienen: © JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16.
März 2012
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