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Vernichtungskrieg

 

Besprechungen:

Adam Jones (Hrsg.): Völkermord, Kriegsverbrechen und der Westen, Berlin 2005

Die Vereinten Nationen haben 1948 die "Konvention über Verhütung und Bestrafung des Völkermordes" beschlossen. Unter Völkermord sind demnach nicht nur Tötungen von Angehörigen eines Volkes zu verstehen, sondern auch die Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden bei ihnen, außerdem Maßnahmen zu Geburtenverhinderung und schließlich der Raub ihrer Kinder. Diese allgemeine Deklaration hätte es ohne den Einfluß des Aufklärungsdenkens nicht gegeben, das im allgemeinen  in Verbindung mit einer bestimmten Himmelsrichtung verortet wird: dem Westen. Wie es nun mit der Haltung dieser Himmelsrichtung zu den selbst erhobenen Maßstäbe steht, danach fragt der von Adam Jones herausgegebene Sammelband.

Unter dem Westen versteht der Herausgeber die industrialisierten Demokratien Westeuropas, Nordamerikas mit der Ausnahme Mexiko und dazu noch Australasiens. Rußland, Israel und Südafrika bleiben ausgeklammert. Deutschland ist mit dem Kolonialkrieg gegen die Hereros auf der Anklagebank vertreten, womit also das Kaiserreich als westliche Demokratie betrachtet wird. Als einzige "westliche" Nation tauchen die Deutschen wegen des Bombenkriegs der Alliierten zugleich in der Opferrolle auf. Der ebenfalls vom Westen mit zu verantwortende Völkermord an den Ostdeutschen nach 1945 wird aber nicht berücksichtigt.

Gerichtet sind die meisten Beiträge des Buchs gegen die amerikanische Politik. Die Vorwürfe gegen die USA sind unterschiedlich. Kalter Genozid durch die Pressung indianischer Kinder in das amerikanische Schulsystem, Greuel in Indonesien, Bomben auf Vietnam und Kambodscha, Subversion in Chile, Unterstützung der Diktatur in Somalia, Tatenlosigkeit während des Völkermords in Ruanda, völkerrechtswidriger Boykott gegen den Irak und ein nicht gerechtfertigter Angriffskrieg auf Jugoslawien während der Kosovo-Krise stehen unter anderem auf der Liste. Angeklagt werden auch die belgische Kongopolitik und Frankreich wegen des Algerienkriegs. Stillschweigend ausgespart bleibt die englische Kolonialpolitik.

Moralische Empörung durchzieht das Buch. Konkrete Forderungen nach Wiedergutmachung aller Art werden von verschiedenen Autoren erhoben. Die Begründungen leiden allerdings an einem starren und manchmal widersprüchlichen Verständnis von Politik. Nachweislich trug die Chilepolitik des im Buch mehrfach angegriffenen Henry Kissinger in der Tat dazu bei, dem alten lateinamerikanischen Scherz neues Leben zu verleihen, in Washington fände nur deshalb nie ein Militärputsch statt, weil es dort keine US-Botschaft gebe. Andererseits verglich der unter Kissingers Mitwirkung gestürzte Salvador Allende die Perspektiven seiner Politik für Lateinamerika selbst mit denen der russischen Oktoberrevolution. So drängt sich dem Rezensenten der Gedanke an die ungezählten Millionen auf, die nicht ermordet worden wären, wenn die von England organisierte Subversion in Moskau 1918 ähnlich erfolgreich gewesen wäre wie die amerikanische später in Santiago. Die parallelen Anklagen wegen Untätigkeit und Einmischung beschreiben letztlich das Dilemma aller Politik, immer nur einen einzigen Versuch zu haben. Handeln wie Nichthandeln kann Völkermord direkt oder indirekt verursachen.