Vernichtungskrieg Besprechungen: Sönke
Neitzel/Harald Welzer: Soldaten - Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben,
Frankfurt 2011 Sönke Neitzel und
Harald Welzer wollen einen Schatz gehoben haben und die Leitmedien der
Bundesrepublik wollen einen Skandal gefunden haben. Es geht um Abhörprotokolle
deutscher Kriegsgefangener aus westlicher Gefangenschaft, die nach ihrer
Ansicht endlich einen ungefilterten Blick auf den Kriegsalltag und die Psyche
der Soldaten ermöglichen. Häppchenweise wird dies nun publiziert, zunächst
vor einigen Jahren vom Historiker Neitzel allein mit Bezug auf deutsche
Offiziere, nun zusammen mit dem Sozialpsychologen Welzer für ein breiteres
Spektrum aller Dienstgrade. Für den Herbst ist schon das nächste Buch
angekündigt, das dann auch italienische Abgehörte berücksichtigen soll. "Verbrechen"
schreit die veröffentlichte Meinung, aber ganz dem akademischen Gestus
verhaftet, verweisen die Autoren eher trocken darauf, menschliches Handeln
sei nur bei Berücksichtigung verschiedener Referenzrahmen zu verstehen, in
denen die Menschen handeln. Das seien im wesentlichen vier Bereiche, nämlich
ihr allgemeiner kultureller Hintergrund, die aktuellen
politisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten, die konkreten Herausforderungen
etwa beruflicher oder soldatischer Art und schließlich die familiären oder
charakterlichen Vorprägungen. Das klingt zugleich etwas verschwurbelt und
banal, ist aber die Basis für den interessanten Versuch, das gefundene
Material mit anderen Ereignissen abzugleichen, bei denen Menschen etwas
erstaunliches getan haben. Als ein erstes Beispiel führen Neitzel und Welzer
die amerikanische Massenpanik nach der Meldung einer Invasion vom Mars an,
die im Oktober 1938 im Zusammenhang mit einem Radiohörspiel von Orson Welles
ausgebrochen ist. Mehrere Millionen Menschen hielten das für real und
reagierten entsprechend. Meinungen schaffen Fakten und massenhaft präsente
Meinungen können in Katastrophen münden, auf diese Ansicht legen die Autoren
an vielen Stellen Wert. An dieser speziellen Stelle hätten sie einen Blick
auf die unmittelbare Ursache der US-Massenpanik werfen können, die ohne die
damals in den US-Radioprogrammen bereits jahrelang laufende
Nazi-Invasionsfurchtkampagne, die mit fiktiven Bombern, Fallschirmjägern und
omnipräsenten "Nazi-Spies" arbeitete, kaum vorstellbar gewesen
wäre. Das Goebbels-Ministerium ließ sich die Gelegenheit auch nicht entgehen,
die panischen Amerikaner als "von jüdischen Radiodämonen verhetzt"
zu bezeichnen. Für Neitzel/Welzer zeigt die Episode statt dessen nur,
"was grundsätzlich der Fall ist, wenn Menschen sich zu orientieren
versuchen." Diese
Beschränkung ist typisch, denn bei ihrer Referenzrahmenanalyse haben die
Autoren eines vergessen, und das ist der eigene Referenzrahmen. Sie
schreiben, daß kein Bundesbürger beim Zeitungslesen darüber nachdenken würde,
zu welchem Kulturkreis er gehört und wie das seine Einschätzung von richtig
oder falsch beeinflussen kann. Das mag leider stimmen, sollte aber nun nicht
auch noch für den Historiker gelten. Ihre bundesrepublikanische Sozialisation
beeinflusst das Urteil der Autoren erkennbar sehr stark, ohne das ihnen das
ausreichend bewußt wäre. Daher glauben sie praktisch alles, was das seit den
90er Jahren trotz des Fehlens jedweder empirischen Grundlage grassierende
Gerücht über die Häufigkeit von moralischer Entgrenzung, Gewaltbereitschaft
und Massenmord bei deutschen Soldaten bestätigen könnte. Angesichts der
dürren Quellenlage können sie allerdings auch kaum anders und müssen nehmen,
was geboten wird. Von 16.000 Gesprächsprotokollen enthalten nach ihren
Angaben ganze 0,2 Prozent, also lediglich knapp über dreißig, irgendwelche
Hinweise auf Völkermord. So muß denn ein von einem Nicht-Dabeigewesenen aus
dritter Hand kolportiertes Gerücht über eine Massenerschießung von
fünfzehntausend Personen zum Beleg für ein Verbrechen genommen werden, auch
wenn sie an einem von ihm genannten Ort stattgefunden haben soll, den es gar
nicht gibt und den die Autoren hilflos mit einem Fragezeichen versehen. Dabei
geht aus der Wortwahl noch nicht einmal genau hervor, ob es überhaupt ein
deutsches Verbrechen gewesen sein soll oder aber einer der sowjetischen
Massenmorde des Sommers 1941, deren Leichenberge dann von deutschen Soldaten
vorgefunden wurden. Null-komma-Zwei
Prozent derartiger Bezugnahme auf Völkermord ist nicht viel, das wissen auch
die Autoren. Sie fügen außerdem hinzu, solche Äußerungen seien
überproportional aufgezeichnet worden und jeder auch nur indirekte Bezug sei
mitgezählt worden. Unter diesen Umständen sind 0,2 Prozent eigentlich nicht
wenig, sondern gar nichts. Dennoch, so setzen sie unverdrossen fort, müsse
man von einem allgemeinen Mitwissen aller Wehrmachtsangehörigen ausgehen.
Wieso man das "muß", bleibt unklar. Wissenschaftlich behauptbar
jedenfalls ist nur, was falsifizierbar, also durch Quellen belegbar und durch
Quellen widerlegbar ist. Wer trotz fehlender Quellen ein Allgemeinurteil
abgibt, der betritt den Bereich des Glaubens, in diesem Fall eher des
Aberglaubens und da hilft dann auch der - mit Verlaub: alberne - Verweis
darauf nicht, Heinrich Himmler habe schließlich auch nicht dauernd vom
Völkermord gesprochen. Daß ein deutscher
Soldat einen Franzosen von hinten erschießt, weil er sein Fahrrad stehlen
will, ist den Autoren eine unhinterfragt eingestreute Tatsache. Quellenkritik
findet nicht statt, obwohl die Autoren wissen und im Anhang auch schreiben,
daß gerade Verbrechensäußerungen im Auftrag des britischen oder
amerikanischen Militärs zur Provokation von Selbstbezichtigungen gefallen
sein können. Dem stehen dann geradezu erheiternde Passagen gegenüber, an
denen den Autoren der Glaube verloren geht. Ein Soldat will als
Sechzehnjähriger seine Tischtenniskarriere aufgegeben haben, weil er
"von so einem Judenjungen" besiegt worden sei und danach der
Ansicht war, das könne kein würdiger Männersport sein. Neitzel/Welzer finden
das ohne weitere Erklärung "total unglaubwürdig". Warum, so fragt
man sich? Können jüdische Jugendliche ihrer Ansicht nach nicht Tischtennis
spielen, oder hat etwa noch nie ein Jugendlicher nach einer für ihn peinlichen
Niederlage seinen Sport gewechselt? So sind dieses Buch und der Wirbel darum eher ein Ausdruck der gegenwärtigen bundesrepublikanischen Verhältnisse als eine wissenschaftliche Analyse. Die Presse hat sich auf einige griffige Zitate gestürzt, die passenderweise auf den ersten Seiten und dem Buchumschlag plaziert waren, so weit kommt auch der gewöhnliche deutsche Journalist. Garniert mit den üblichen Bildverfälschungen waren die Artikel schnell fertiggestellt; es waren fast überall die gleichen, ob in Bild, Welt oder TAZ. Dabei ist es klar erkennbar überhaupt nicht das Anliegen der Autoren Neitzel und Welzer gewesen, die nächste Kollektivschulddebatte loszutreten. Sie wollten eine wissenschaftliche Analyse vorlegen, warum Menschen unter extremen Verhältnissen bestimmte Handlungen ausführen. Weil das eine allgemeingültige Darstellung werden sollte, schließen sie mit aktuellen Vergleichen, etwa mit dem gezielten Tötungsverhalten amerikanischer Soldaten im Irak. Man ist geneigt, manchen Gedanken zuzustimmen, aber im wesentlichen haben sich Neitzel und Welzer doch in der Gerüchteküche des bundesrepublikanischen Referenzrahmens verlaufen. |
|||||||
|
|||||||
|
|||||||
|