Vernichtungskrieg Besprechungen: Christian Plöger:
Von Ribbentrop zu Springer. Zu Leben und Wirken von Paul Karl Schmidt alias
Paul Carell, Tectum Verlag, Marburg 2009, 475 S. Nach dem kaum
wissenschaftlichen Standards genügendem und in jeder Hinsicht dünnem Buch von
Wigbert Benz (*) zu Paul Schmidt-Carell scheint jetzt mit Christian Plögers
voluminöser Dissertation zu dem bekannten Nachkriegsschriftsteller eine auf
den ersten Blick ernstzunehmende Studie erschienen zu sein. Der Autor
versucht, Leben und Werk seines Probanden erstmals umfänglich zu untersuchen,
stößt dabei aber bereits früh auf unüberwindliche Hindernisse: Ihm bleibt der
Zugang zu den privaten Unterlagen Paul Carells versagt. Somit muß Plöger sich
allein auf öffentlich zugängliche Quellen beschränken und kann so bestenfalls
nur ein Teilbild der Persönlichkeit Schmidt-Carells liefern. Das schlägt sich
in häufig wiederholten Formulierungen nieder, wie Umfang und Auswirkungen von
Schmidts Arbeit "sind nicht genau zu klären" (S. 160), "ohne
dies näher belegen zu können, gibt es jedoch Hinweise…" (S. 372),
"eindeutige Beweise gibt es nicht" (ebd.) oder "kann nur
vermutet werden" (S. 378). Die Aufzählung derartiger Beispiele ließe
sich problemlos fortsetzen. Dies führt dazu, daß die Bewertung von Carells
Tätigkeit vor und nach 1945 oft im Vagen bleiben muß. Darüber hinaus ist der
Autor auch nicht frei von krassen Fehleinschätzungen, so wenn er die von
Schmidt-Carell mitzuverantwortenden Studentenproteste in Kiel nach der
Machtergreifung von 1933 zu "Unruhen" hochstilisiert. Damit entlockt
er Aktivisten der 68er Bewegung wohl nur ein müdes Lächeln. Überhaupt ist
Plöger ziemlich kritiklos bei der Übernahme von Einschätzungen der Gegenwart
zu historischen Ereignissen, so als suche er intellektuelle Anlehnung bei
anerkannten und etablierten Vertretern des Faches, weil ihm als Soziologen
offenbar tiefere historische Kenntnisse abgehen. So kann er auch letztlich
nicht klären, was genau Schmidt-Carell mit seiner "Notiz für den Herrn
Staatssekretär" vom 27.5.1944 bezüglich der propagandistischen Absicherung
der Deportation ungarischer Juden eigentlich bezweckte, denn über das, was
Carell vom Holocaust gewußt haben könnte, ergeht Plöger sich in seitenlangen
Spekulationen (S. 165–170). Immer wieder unterlaufen ihm peinliche Schnitzer,
wie die Unkenntnis über den Grund der Internierung amerikanischer
Journalisten am 11.12.41 (S. 160), nämlich die Kriegserklärung an die USA vom
selben Tag. Desgleichen seine Behauptung, "das Deutsche Reich
kapitulierte" (S. 342) am 8. Mai 1945 und nicht die Wehrmacht, oder die
naive Frage nach den unbekannten Gründen für die Flucht Schmidt-Carells bei
Kriegsende aus dem von den Sowjets bedrohten Berlin (S. 138) nach
Süddeutschland. Ist es wirklich so schwer nachzuvollziehen, daß
Schmidt-Carell nicht Jahre in sibirischer Kriegsgefangenschaft sitzen wollte,
wenn der NKWD ihn nicht sowieso als hochrangigen Regierungsbeamten kurzerhand
liquidiert hätte? Außerdem sei nach Plöger "die These [vom
Präventivschlag] … abzulehnen…" (S. 369, FN 655), und nicht etwa, sie
sei wissenschaftlich unhaltbar oder von den Fakten nicht gedeckt. Mangels
eigener Kompetenz wagt der Autor kein eigenes Urteil, sondern zeigt, daß er
eher der heute gängigen Geschichtspolitik als der Geschichtswissenschaft
zuneigt. Negativ muß auch das wirklich miserable Lektorat bewertet werden.
Immer wieder stößt der Leser auf die Schreibweise "Göbbels",
verdruckte Zeilen oder Textwiederholungen, ebenso erschwert das Fehlen eines
Namensregisters die Übersicht. Der Schluß der
Studie besteht aus soziologischem Fachchinesisch, mit dem Schmidt-Carells
Leben in die Theorieschablonen der verschiedensten Hausgötter der Soziologie
(Adorno, Elias, Foucault, Fromm, Horkheimer, Luhman etc.) gepreßt wird,
unabhängig davon, daß die Belege für Plögers Thesen nur "spärlich",
"nicht eindeutig" oder "nur vermutet" sind bzw. nur
"plausibel erscheinen." Es handelt sich um ein reines
Zitatenfeuerwerk speziell für die Gutachter dieser Dissertation, das die
Belesenheit des Autors belegen soll, aber für die Bewertung des Lebens von
Schmidt-Carell nicht den geringsten Wert hat. Auch dieser theoretische
Ballast macht dieses Buch nicht gerade lesbarer. So muß der Rezensent
feststellen, eine Äußerung Plögers – "Aussagen über die konkrete
Bedeutung Schmidts zu machen, ist kein leichtes Unterfangen" (S. 417) –
aufgreifend, daß der Autor sich am Gewicht dieses Unterfangens gehörig
verhoben hat. Es genügt eben für eine aussagekräftige Biographie nicht, sich
an der breiten Verwendung soziologischer Fachtermini zu berauschen und sich
das nötige historische Fachwissen bei etablierten Kapazitäten des Faches
auszuborgen. Plöger fehlt es an Verständnis und Einfühlungsvermögen in den
Menschen Paul Carell und die Zeiten, in denen er lebte und wirkte. Kolossaler
kann ein Biograph nicht scheitern. O.H. Endnoten: (*) Wigbert Benz:
Paul Carell. Ribbentrops Pressechef Paul Karl Schmidt vor und nach 1945,
Berlin 2005
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