Vernichtungskrieg Besprechungen: Timothy Snyder:
Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. Verlag C. H. Beck, München
2011, gebunden, 523 Seiten, 29,95 Euro Manche sind der
Ansicht, daß Europa ein anderes Geschichtsbild braucht. Zu ihnen zählt
Timothy Snyder, Professor für Zeitgeschichte in Yale und Autor des
vielumjubelten Buches "Bloodlands – Europa zwischen Hitler und
Stalin". Die "Bloodlands" sind für ihn jener Teil Europas, in
denen Sowjets und Nationalsozialisten zwischen 1932 und 1945 nach seiner
Auffassung insgesamt vierzehn Millionen Menschen ermordet haben. Dazu zählt
er im Osten neben Polen vor allem die Ukraine, Weißrußland und die baltischen
Länder, aber nur einen sehr kleinen Teil Rußlands, deutlich kleiner
jedenfalls als die größte Ausdehnung der deutschen Besatzungszone.
Skandalisiert wurde nach Erscheinen der englischsprachigen Ausgabe 2010
bereits der Umstand, daß Snyder die kommunistischen mit den
nationalsozialistischen Massenverbrechen in dieser Region überhaupt in einem
Werk zusammenfaßt. Zu Snyders Bloodlands gehören weiterhin Danzig und
Ostpreußen, bei dem die Herausgeber gelegentlich sicherheitshalber in
Klammern dazusetzen, das sei damals deutsch gewesen. Nicht dazu gehören
Pommern, Schlesien und andere später sowjetisch eroberte Gebiete
Deutschlands. Als Begründung
für letzteres läßt der Autor durchblicken, dort habe kein Massenmord
stattgefunden. Dies überrascht, denn der Stalinismus beging seine Massenmorde
keineswegs nur in den phasenweise deutsch besetzten Gebieten der UdSSR,
sondern leider auch im Deutschland des Jahres 1945. Was Snyder der
nationalsozialistisch-deutschen Seite anrechnet, muß nach seiner Deutung
andererseits sowohl westlich wie östlich der von ihm ausgewählten Regionen
ebenfalls stattgefunden haben. Insofern bildet das Buch teilweise eher die
wunderlichen Gedankenwelten der heutigen amerikanischen Universitätslehre ab,
als das Mittel- und Osteuropa der Jahre 1932 bis 1945. Erheiternde Stilblüten
wie die, Hitler habe die Wehrmacht 1938 zum "Sieg über Österreich"
geführt, sind kein Zufall, sondern symptomatisch für eine Historikerszene,
der häufig die Kenntnis politischer Zusammenhänge der damaligen Zeit fehlt,
die aber dennoch Standards setzen will. So findet sich
bei Snyder der bunte Strauß der üblichen groben Verfälschungen. In der
Denkschrift zum Vierjahresplan hätte Hitler 1936 die Zerschlagung der UdSSR
als Ziel ausgegeben, gibt er an. Tatsächlich hatte Deutschlands Diktator dort
umgekehrt gefordert, eine Zerschlagung Deutschlands durch die UdSSR zu
verhindern. Die in den letzten Jahren populär gewordene Legende eines
"deutschen Hungerplans gegen die sowjetische Zivilbevölkerung", der
dreißig Millionen Tote vorsah, aber dann – wie er selbst einräumt – trotz
vorhandener Gelegenheit nie umgesetzt wurde, wird von Snyder reichlich bemüht.
Noch einmal dreißig Millionen slawische Tote hätte laut ihm der
"Generalplan Ost" vorgesehen und auch hier hätte ein Blick in
diesen Plan den Autor darüber belehren können, daß darin kein Wort in dieser
Hinsicht zu finden ist. Jedwede politische Geschichte der Kriegsereignisse
fehlt in "Bloodlands" ohnehin. Die deutsch-russischen und die
deutsch-polnischen Kriege sind "Überfälle" der deutschen Seite Hier wird es
trotzdem interessant, denn alle Definitionskünste führen nicht daran vorbei,
daß der Krieg in dem von Snyder eingegrenzten Raum 1939 mit der Massengewalt
an der deutschstämmigen Zivilbevölkerung und dem Massenmord an Tausenden
Deutschen in Polen begann. Nicht einmal die von ihm angeführten,
verharmlosenden Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts in
Warschau gehen so weit, dies ganz zu verschweigen. Snyder verliert darüber
dennoch kein Wort. Der Symbolort Bromberg, ausschließlich Bydgoszcz genannt,
ist ihm nur ein Ort, an dem deutsche Einsatzgruppen polnische Bürger ermordet
haben. Angesichts dieser
Informationslücken könnte der Gang zu den Quellen vielleicht helfen. Snyder
bedankt sich ausdrücklich bei einer Anzahl von europäischen Archiven, die er
bei Forschungen für das Buch aufgesucht habe. Allerdings findet diese
reklamierte Archivarbeit nicht die Bestätigung durch auch nur eine einzige
Fußnote. Snyder trifft weitreichende Aussagen über Massenmorde, ohne die
jahrzehntelange Debatte über die Opferzahlen aus eigener Forschung zu
bereichern. Dafür verarbeitet er ausführlich Sekundärliteratur, auch
Belletristisches wird herangezogen. Snyders Medium ist, zugespitzt gesagt,
nicht die Statistik und auch nicht die Analyse, sondern der Zeugenbericht.
Hier nun bringt er ohne erkennbare Quellenkritik eine große Anzahl von
Überlieferungen und Aussagen, die den Leser erschüttern und das Buch für
viele zu dem bewegenden Ereignis machen, als das es in den Medien des Jahres
2011 abgefeiert wurde. Wissenschaftlich
ist das Buch fast wertlos. Seine Wirkung wird im geschichtspolitischen
Bereich liegen. Jemand hat bezahlt, daß "Bloodlands" gleich in
zwanzig Sprachen erscheint. So kann nun beispielsweise weltweit nachgelesen
werden, daß der Autor dem heutigen Rußland abspricht, sich im Rahmen
nationalen Gedenkens auf die hohen Opferzahlen des Zweiten Weltkriegs in den
Bloodlands zu berufen. Sie seien mehrheitlich zwar sowjetische Tote gewesen,
aber eben keine russischen. Der Bundesrepublik wird ein tadelloser Umgang mit
dem Holocaust attestiert. Gleichzeitig rechnet Snyder die Zahl der deutschen
zivilen Toten, insbesondere in den Vertreibungsgebieten, in ungeahnte Tiefen
herunter. Eher beiläufig ordnet er zudem die Verantwortung für die
Vertreibung der Deutschen ausschließlich der UdSSR zu. Auch dies ist
angesichts der polnischen Vorkriegsansprüche und der langfristigen Planungen
im Westen eine der Grotesken seines Geschichtsbilds. Überhaupt der
Westen. Er fehlt bei Snyder völlig, obwohl sich die Ereignisse in den
Bloodlands ohne seinen Beitrag zur Ära der Weltkriege nicht verstehen lassen.
Hunger als Waffe beispielsweise mußten nicht erst die Sowjets 1921 entdecken,
wie er meint. Hunger als Waffe wurde von Großbritannien schon in den Jahren
vorher umfassend eingesetzt, und Hunderttausende verhungerte Deutsche,
vorwiegend Alte und Kinder, waren die Folge. Solches einzubeziehen und
zugleich ein Ende der oben erwähnten Desinformationen durchzusetzen, das
wären jene Schritte zur wissenschaftlichen Redlichkeit, die allein erst
klären könnte, welches Geschichtsbild an die Weltkriegsära erinnern soll.
Snyders Buch liefert dafür keinen Ansatz. Zuerst
erschienen: © JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/11
/ 16. Dezember 2011
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